Kölner Rundschau, 15. Mai 2013
Die Ausstellung „Art Blind“ zeigt Werke bildender Künstler, die nicht sehen können.
VON WERNER GROSCHE
Eckhard Seltmann war Kunstlehrer. Vor 25 Jahren, mitEnde 30, ist er erblindet. „Danach ging jahrelang nichts mehr, ich habe mich ganz aufs Schreiben verlegt“, erzählt er. Erst eine neue Partnerin, die er nach der Erblindung fand, ermutigte ihn, nach zehn Jahren wieder die Stifte in die Hand zunehmen. Sie schenkte ihm einen neuen Kasten mit professionellem Werkzeug. Seltmann, der neben Kunst auch Industriedesign studiert hatte, wollte nicht, wie andere Blinde, dreidimensional und mit schweren Materialien wie Stein und Holz arbeiten. „Mich hat immer das Zeichnen gereizt, und so ist es bis heute.“„Krikel-Krakel“ nennt er seine Zeichnungen lachend selbst, ungeachtet der Empörung seiner Partnerin. Eine Art Schablone, ein verschiebbares Passepartout, hilft ihm beim Aufbau des Bildes. Seltmann staunt darüber, wie oft sich die Vorstellungen, die er sich von seinem Bild gemacht hat, mit den Wahrnehmungen derer decken, die sie schließlich sehen können. Die Kunst, diesein Leben vor der Erkrankungprägte, ist so wieder ein Teildieses Lebens geworden.Visuelle Kunst, die der Künstler selbst nicht sieht. Es ist wie Musik, die man nicht hören kann, wie ein Duft, den man nicht riechen kann.
Das„Sommerblut“-Festival stellt in diesem Jahr radikale Fragen zur Kunst. Zum Programm gehört die Ausstellung „art blind“, in der neben Seltmann 15 weitere Künstler aus Europa und den USA Arbeiten zeigen –oder betasten lassen, per Audiodeskription beschreiben.
Siegfried Saerberg ist Kurator des Projektes. Der Soziologe und Musiker, der selbst blind ist, ist in viele Ateliers gereist,um die Arbeiten der Künstler, die sich für die Ausstellung beworben hatten, berühren zu können. Eine Jury entschied streng über die Auswahl unter 65 Kandidaten. „Wir wollen schon Niveau präsentieren,wollen abstrakte Dimensionen,die über bloßes Nachbilden hinausgehen“,sagt Saerberg, der hofft, dass das Kölner Projekt die Idee der Teilhabe aller an der Gesellschaft fördert.
Museen sollten öfter Audiodeskriptionen anbieten und das Berühren der Werke erlauben. „Die Kunst sollte zugänglicher werden. Denn viele blinde Menschen interessieren sich heute mehr als früher für die allgemeine Kultur und wollen wissen, was einen Rembrandt von einem Picasso unterscheidet.“
Zur Ausstellung „art blind“ gehören Zeichnungen, Malerei,Skulpturen und Installationen. Besonders am Herzen liegt Saerberg ein Künstler, der schon vor 14 Jahren gestorben ist: Flavio Titulo. „Er ist als Blinder mit schwerem Gerät durch Steinbrüche gezogen, hat große Skulpturen entworfen und mit seinen Arbeiten auch Anerkennung in der allgemeinen Kunstszene gefunden“, berichtet der Kurator. Heute aber sei er schon wieder weitgehend vergessen. „Eine Skulptur von ihm haben wir in einer Kiste irgendwo hinten im Atelier eines befreundeten Künstlers in den Niederlanden gefunden“,erzählt Saerberg.Wider das Vergessen und wider die Gewohnheit. Die Ausstellung ist für das sehende Publikum ein ungewöhnliches Experiment. In dieser Form und Größe hat es noch nichts Vergleichbares in Deutschland gegeben. Es geht um das Abweichen von der „sensorischen Routine“, wie es die Initiatoren der Ausstellung beschreiben. Bilder werden zu taktilen Objekten, Zeichnungen zum akustischen Erlebnis.