Presse: Sehen schützt vor Blindheit nicht

Aus Süddeutscher Zeitung vom 27.07.1996

von Detlef Grumbach

„Diese Veranstaltungen führen Sehende und Blinde gleichermaßen In eine verkehr-te Welt. Die Sehenden tapsen hilflos in einen Raum, verlieren im ersten Moment jede Orientierung und müssen blind vertrauen: Hat der Kassierer den Zwanzigmarkschein erkannt, hat er wirklich ein Fünfmarkstück herausgegeben?
Hinter der zweiten Lichtschleuse sind alle Besucher völlig gleich – mit einem kleinen Unterschied: Für die Blinden ist alles fast normal. Sie haben es gelernt, sich im Dunkeln zurechtzufinden, sich an Geräuschen oder an einem Luftzug zu orientieren, der den Weg zum Ausgang weist. Doch auch sie befinden sich in einer verkehrten Welt, denn hier sind sie es, die, im Unterschied zu ihrer alltäglichen Situation, um Hilfe gebeten werden. Sie führen die Regie, weisen den Weg, geleiten die Gäste zum Tresen und servieren Getränke. Das Vertrauen, das sie ihren sehenden Mitmenschen draußen entgegenbringen müssen, nehmen sie hier entgegen.
… Je mehr man die Augen schließt und in sich hineinlauscht, taucht man in eine völlig fremde Welt ein. Langsam verschiebt sich die Wahrnehmung – man glaubt sogar, sich etwas zurechtzufinden, erkennt Schritt für Schritt Vertrautes wieder. Man macht sich Zusammenhänge bewußt, die man auch sonst wahrnimmt, die man jedoch kaum bemerkt, weil das Auge sie zu unwichtigen Nebensächlichkeiten degradiert. Geräusche haben eine Richtung: Wo ist der Tresen? „Hier“, ruft jemand rechts hinter mir – aber nicht direkt zu mir, sondern schräg an mir vorbei. Wenn die Stimme sich hinter dem Tresen befindet und geradeaus gesprochen hat, gehe ich also ein paar Schritte nach rechts, mache eine viertel Drehung und gehe dann direkt darauf zu. So einfach wäre das gewesen. Wenn da keine Säule stünde. Auf dem Rückweg zum Platz spüre ich den kalten Luftzug vom Eingang. Wie bin ich gegangen, als ich angekommen bin? Und irgendwo muß sich auch der Heizkörper befinden, den ich auf meinem Platz links vor mir spüre. Es dauert ein wenig, aber ich finde ohne fremde Hilfe zurück.“