Presse: Anfassen erwünscht

Die Welt, 28. Mai 2013

Neue Ausstellung im Kölner Stapelhaus präsentiert Kunstwerke für Blinde

VON ANGELIKA STAUB

Hoch konzentriert ertastet Detlef Heiler ein großes, rotes Bild. Begleitet hat ihn ins Stapelhaus seine Frau. Sie kann sehen, er nicht. Beide interessiert die „Art Blind“ gleichermaßen brennend: Eine Ausstellung in der Altstadt von 16 blinden und sehbehinderten bildenden Künstlern. Sie stammen aus neun Nationen. Immer wieder steckt das Kölner Paar die Köpfe zusammen und tauscht flüsternd Eindrücke aus. „Dass das Bild rot ist, kann ich natürlich nicht herausfinden“, erklärt Heiler. Für ihn ist die internationale Ausstellung eine Rarität. Hier kann er sich ausnahmsweise selbst ein Bild auch von den visuellen Künsten machen, sie anfassen. Seine Frau ist begeistert: „Unsere Interpretationen laufen oft auf das gleiche Ergebnis hinaus, auch wenn er die Ausstellungsstücke nicht sieht.“ Detlef Heiler erklärt: „Wenn sich das Bild rau, hart und pickelig anfühlt, drückt es Schmerz aus.“ Nach mehreren Stunden im großen Ausstellungsraum steht für das Kölner Paar fest: „Wir müssen wieder kommen.“ Es gebe noch viel zu entdecken. Ob die beiden auch in der Tastgalerie waren? Sie lädt insbesondere sehende Besucher ein, die Hände durch weiß verdeckte Greiflöcher zu stecken, dann die unsichtbaren Skulpturen dahinter zu erfassen. Ein Wechsel hinter die Trennwand offenbart, wie unterschiedlich die tastenden Hände arbeiten: manche hektisch, andere geduldig. Auch die rosafarbene, beinah herzförmige Steinskulptur „Durchscheinend“ lässt zwangsläufig viele Streicheleinheiten über sich ergehen. Sie gehört Karla Faßbender aus Alfter. Die blinde Künstlerin ist umringt von Bekannten und Freunden. Sie kann ihr Glück noch kaum fassen. Waren doch 65 Bewerbungen bei der Jury eingegangen und bekamen nur 16 Künstler den Zuschlag. Vor acht Jahren hat Faßbender die Kunst als Tor zur inneren Ruhe entdeckt. Die 63-Jährige arbeitet am liebsten abstrakt und mit Speckstein. Abschließen kann sie ihre Werke erst, „wenn die Einheit vollkommen ist“. Darüber entscheidet ihr Tastsinn. Die Lautstärke im Ausstellungsraum nimmt zu. Viele Gespräche laufen. Ein anerkennendes Lächeln alleine erreicht die Künstler aus Deutschland, Europa und den USA nicht. Es müssen schon Worte sein, will man sich äußern zum weißen Ballett aus Keramik, den pigmentierten Landschaften, der Verführung aus Holz, dem gehäkelten Spiegelei in eben solcher Pfanne oder dem Kuss aus weißem Stein. Vor der mächtigen Ikarus-Skulptur aus Wachs und Federn stehen auffällig viele Gäste. Manche von ihnen verschwinden nach einer Weile wenige Meter entfernt hinter einem schwarzen Vorhang. Wer ihn zur Seite schiebt, steht in einer Dunkelkammer, von deren Decke im UV-Licht „Jungenabenteuer“ baumeln: Trompete, Fahrrad, Würfel und vieles mehr. Zurück im Neonlicht hellen Raum fallen gerahmte Bleistiftzeichnungen auf. Sie sind ausnahmsweise nur visuell erfahrbar. Eine Audiodeskription versucht, die Barriere für blinde Menschen auszugleichen. Inklusion auf der „Art Blind“ wird groß geschrieben: Zweisprachig und für blinde Menschen in Braille-Buchstaben sind die Werke beschriftet, Führungen finden auch in Gebärdensprache statt und Rollstuhlfahrer können hindernisfrei zu den 48 Exponaten gelangen. Blinde Gäste orientieren sich an den aufgeklebten Bodenmarkierungen.

Die große Barrierefreiheit ist der Hauptgrund, weshalb Dr. Siegfried Saerberg, ebenfalls blind, mit Stolz dem Treiben lauscht: „Die Ausstellung ist einmalig.“ Er hat sie für den Blinde und Kunst e.V. kuratiert. Geht es nach Saerberg, sollten sich die Kölner Museen den blinden und sehbehinderten Menschen mehr öffnen. „Es gibt so viel gute Kunst, die in den Depots der Museen schlummert“, sagt er. „Warum kann man nicht wenigstens sie betastbar machen?“